„Once-in-a-lifetime-event“. Immer wieder hörten wir #SwissStarters diese Worthülse während der Vorbereitung auf die Heim-EM. Die Marketing-Abteilung hatte recht: so etwas werden wir als Athleten nie mehr erleben. In vielen Interviews – nicht nur von mir – taucht ein Wort immer wieder auf: unglaublich!

Freitagabend

Ein Teil des Männer Marathon-Teams sitzt zusammen mit einigen Läuferinnen der 4x 100m Frauen Staffel in der Team-Lounge vor dem Fernseher. Hinter uns hängt eine riesige Schweizerfahne, die mit guten Wünschen und „Hopp Schwiiz“ beschriftet ist. Wir Marathonis haben einen Bidon dabei, denn in den letzten Tagen vor dem Wettkampf sind wir ständig daran unsere Speicher zu füllen. Die Frauen der Staffel hingegen bemalen ihre Fingernägel, so wie sie es vor jedem Rennen tun: Wir Sportler lieben Rituale, an die wir uns halten können.

20:52 Uhr, 400m Hürden-Final der Männer: Obwohl Kariem uns nicht hören kann, schreien wir uns die Seele aus dem Hals – und ihn zum Sieg. Als er im Ziel ist, wird es kurz ganz ruhig im Zimmer. Hat er wirklich gewonnen? Dann bricht der Jubel aus – er bringt ihn tatsächlich „hei“ – unglaublich! Während der Siegerehrung stehen wir alle vor dem TV und starren nach vorne, da keiner beim Weinen erwischt werden will.

Noch immer euphorisiert schaue ich mit meinem Zimmer-Kollegen noch „Sport Aktuell“ und die Interviews mit Kariem und seinem Coach Flavio. Aufgewühlt legen wir uns schlafen, schliesslich sollen wir in zwei Tagen in Topform sein. Nachdem ich mich über eine Stunde lang hin und her gedreht habe, möchte ich nicht noch mehr Lärm im Zimmer verursachen und begebe mich mit mp3-Player und Kopfhörer auf „Wanderschaft“ durch die Gänge des Hotels. Die Hotelbar ist am Freitagabend nach Mitternacht noch immer gut besucht. In der Lobby sitzen Journalisten, die auf Kariem warten. Ich kriege ihn vor ihnen zu sehen. Im Gang sitzend kommt er (auf dem Weg zur Massage) vorbei. Gratulation, Umarmung, zwei, drei Worte. Toll, jetzt bin ich noch aufgewühlter. Nach seiner Massage sitze ich noch immer am gleichen Ort. Er verschwindet in sein Zimmer und ich sehe noch seinen Medaillenbändel aufblitzen. So einen möchte ich auch…

Samstagmorgen

Zusammen schauen wir uns auch den Marathon der Frauen an. Wir sind überwältigt von den vielen Zuschauern, die es trotz mittelprächtigem Wetter an die Strecke geschafft haben. Ebenfalls fällt auf, dass sich viele Athletinnen davon anstecken lassen und das Rennen zu schnell angehen. Dafür sind jene, die durchkommen, umso schneller.

Nach den tollen Leistungen unserer Marathon-Frauen absolviere ich mein letztes Training vor dem Marathon. Zwanzig Minuten ganz locker laufen. Gemäss Coach ca. im 5 min/km Schnitt – so wie ich es bereits vor den letzten zwölf Marathons getan habe. Als ich das Hotel verlasse, kommt mir Mo Farah entgegen. Wir grüssen uns kurz. Was für ein Gefühl so nah an den Weltbesten zu sein. Bestimmt ein gutes Zeichen… Beim Footing kreuze ich zufälligerweise die Strecke um den Katzensee, auf der wir normalerweise mit dem TV Oerlikon Intervalle bolzen. Auf dem Rückweg zum Hotel steht in Regensdorf ein frisch vermähltes Paar vor der Kirche. Bestimmt ein weiteres gutes Zeichen…

Was fuer en Tag...!

Was fuer en Tag…!

Sonntagmorgen

Früh morgens sitzen wir beim Frühstück. Es ist vier Uhr dreissig und doch sind wir alle hellwach. Ein paar Tische weiter sitzen weitere #SwissStarters, die aber ihren Einsatz an der EM bereits hinter sich haben. Sie sind ebenfalls hellwach, haben die Nacht aber nicht im Hotelzimmer verbracht…

Nach dem Frühstück sehen wir vom fünften Stock im Hotel-Zimmer die Sonne aufgehen. Keine Wolke am Himmel. Ich mache ein Bild und schicke es meinem Coach. „Was fuer en Tag…!“, kommentiere ich. Eine Stunde später, ich sitze im Bus zum Start, kommt seine Antwort: „Yes… Diin Tag!“. Wie recht er haben wird!

Wir steigen beim Bürkliplatz aus dem Bus und es geht nicht lange, da hören wir (lange vor dem Start) die ersten „Hopp Schwiiz!“ Rufe. Zum Einlaufen wählen wir bewusst die Route auf der Marathon-Strecke und holen uns ein paar Emotionen. Fast wäre es zu viel geworden für mich, denn wir kommen beim Treffpunkt meines Fanclubs vorbei. Zuerst entdecke ich nur einzelne Leute, die ich kenne. Dann schaue ich auf und sehe eine Wand aus Menschen. Alle sind wegen mir hier. Mit einem schlechten Gewissen „reisse ich mich los“. Lieber hätte ich alle gleich persönlich begrüsst. Ich muss nun aber meine Energie aufs Einlaufen fokussieren und mich grausam konzentrieren, damit ich meine Emotionen unter Kontrolle halten kann.

unglaublich

unglaublich

Startschuss

Kurz vor dem Start impft mich mein Coach Rubén Oliver ein letztes Mal: „nicht zu schnell starten!“ Dann endlich: der Startschuss. Da man vor lauter Zuschauer die einzelnen Kilometer-Beschriftungen nicht sieht, habe ich keine Ahnung, wie schnell ich unterwegs bin. Bei Kilometer fünf gibt es eine offizielle Zwischenzeit: natürlich bin ich etwas zu schnell. Ich trete leicht auf die Bremse und bin zwischenzeitlich der letzte von sechs Schweizern im Feld. Ich halte meine Pace und beim Halbmarathon habe ich Patrick Wieser abgehängt und Michael Ott und Adrian Lehmann eingeholt. Zu dritt – so wie wir im Training schon hunderte von Kilometern abgespult haben – laufen wir durch Zürich. Ein tolles Gefühl! Etwa beim 27. Kilometer (nach dem Aufstieg zur Polyterrasse) nimmt Michi zwei Schwämme vom Tisch und reicht mir einen davon. Bergab „lasse ich es laufen“, immer noch überwältigt von den Menschenmassen, über die man von oben her kommend einen guten Überblick hat. Von da an bin ich alleine unterwegs und kann einige Läufer, die zu schnell angelaufen sind, noch „einsammeln“. Vom Zwischenstand der Team-Wertung habe ich bis dahin keine Ahnung. Erst als mir bei Kilometer 37 auf der Polyterrasse jemand halb-panisch etwas zurufen möchte, vermute ich, dass es knapp sein könnte. Zwei Kilometer vor dem Ziel verstehe ich im Lärm wieder nicht genau, wie knapp es wirklich ist, aber ich kann deuten, dass es um Sekunden gehen muss. Weder bin ich fähig aktiv zu beschleunigen, noch werde ich langsamer, schliesslich bin ich schon voll am Limit. „Einfach keine Zeit verlieren!“ denke ich mir und stürme Richtung Ziel. Dort sehe ich Viktor und Tadesse bereits warten. Das Bild brennt sich in mein Hirn ein. Ich falle in Vik’s Arme – nicht ohne idiotischer Weise vorher noch die Uhr zu stoppen (Ziellinienüberquerungsstoppuhrstoppreflex).

Das Schweizer Marathon-Team gewinnt EM-Bronze

Das Schweizer Marathon-Team gewinnt EM-Bronze

Am liebsten möchte ich auf den Boden sinken, aber Viktor und Tadesse halten mich in die Kamera und wir strahlen um die Wette. Wir hören vom Speaker, dass wir als Team an dritter Position sind und können es fast nicht glauben. Sollten wir ja auch nicht, denn die Platzierung ist nur der Zwischenstand und noch nicht sicher, da der dritte Italiener noch nicht im Ziel ist. Er kommt ins Ziel und vom zehn Sekunden Rückstand bei Kilometer vierzig wurde für uns ein zehn Sekunden Vorsprung – Bronze somit Tatsache. Endlich kann ich in die Knie sinken, ohne dass mich jemand davon abhält. Etwa zehn Sekunden habe ich im ganzen Rummel für mich selbst. Die Emotionen überwältigen mich sofort. Es ist etwas vom Schönsten, was man sich vorstellen kann: vor Freude weinen.