Bereits zwei Monate sind vergangen, seit ich in Zürich auf dem Bürkliplatz die Ziellinie des EM-Marathons gekreuzt habe. Die Erinnerungen an diese verrückte Zeit sind noch immer lebhaft, der 17. August scheint erst gestern gewesen zu sein.

Als ich im Ziel des Marathons ankomme, ahne ich nicht, was dieser denkwürdige Tag noch alles für das Team bereit halten würde. Beginnend damit, dass wir uns barfuss auf der Zielgeraden von der Menge feiern liessen, nachdem alle sechs Schweizer im Ziel eingetroffen waren. Ein unbeschreibliches Gefühl, wenn sich so viele Menschen mit einem freuen. Die Hormone spielen verrückt; es ist wie ein Trip. Ich verteile Autogramme und schüttle unzählige Hände, die weiteren Details verschwimmen in der Erinnerung und das Zeitgefühl geht völlig verloren.

Interviews

Irgendwann soll ich für SRF etwas in die Kamera sagen. Die Worte sprudeln nur so aus mir heraus. Noch während des Interviews denke ich, dass ich Ewigkeiten rede, aber Päddy Kälin stoppt mich nicht. Erst später realisiere ich, dass das emotionale Gespräch gar live übertragen wurde. Doch zum Nachdenken bleibt keine Zeit, es folgen weitere Interviews für die schreibende Presse und Radios – darunter ein Französisches. Dank zwei Promille körpereigener Glückshormone intus verläuft dieses sogar fliessend. Dennoch frage ich den Interviewer, ob er überhaupt etwas von meinem Französisch verstanden hat. Er lacht und bejaht – zumindest diese Frage hat er verstanden.

Transport

Auch als wir die Zielzone verlassen, bleibt keine Zeit zum Verschnaufen. In der „Mixed Zone“ ziehen wir uns in Eile um; es geht per Bus zum Stadthaus für eine Medienkonferenz und von dort weiter ins Letzigrund Stadion für die Siegerehrung. In dieser Hektik ist es für mich sehr beruhigend Viktor Röthlin zur Seite zu haben, der bereits Erfahrung im Mediallen-Gewinnen hat und den darauf folgenden Trubel erahnen kann. Es ist mir auch bewusst, dass ich einige dieser Momente bei seinem Karriere-Ende nun (für ihn) ein letztes Mal mit ihm durchlebe. Während der kurzen Transport-Fahrt von der Medienkonferenz zum Letzigrund habe ich seit dem Zieleinlauf das erste Mal einige Minuten Zeit für mich. Ich versuche die Geschehnisse des Tages noch einmal im Kopf durch zu gehen, damit ich mich später detailliert daran erinnern kann.

Ich werde aus den Gedanken gerissen, denn fünfzig Meter vor dem VIP-Eingang steht ein Kontrollposten, der die Strasse zum Stadion absperrt. Unser Fahrer erkundigt sich, ob er uns direkt vor dem Eingang abladen darf. „Ausnahmsweise“, sagt der Helfer und bemerkt etwas weniger laut zur Kollegin: „Wieder so VIPs, die nicht mal fünfzig Meter zu Fuss gehen können.“ Grosses Gelächter im Bus. Woher sollen die Helfer denn wissen, dass wir für heute schon genug gelaufen sind. Vor dem Aussteigen dürfen wir dem Bus-Chauffeur noch Autogramme geben – eine schöne und sehr ungewohnte Situation für mich. Meine Unterschrift ändert sich von Mal zu Mal, im Gegensatz zu Vik’s „Chribel“, der immer genau gleich aussieht. Übung macht den Meister! Anschliessend verschwinden wir in den Katakomben des Letzigrunds zur wohlverdienten Dusche.

SRF Live-Interview Nr. 2 und Siegerehrung

Frisch frisiert steht ein weiteres Live-Interview für SRF auf dem Programm, gemeinsam mit Markus Ryffel und Vik. Vier Hände fummeln gleichzeitig an meinem Kopf herum: Schminke, Knopf ins Ohr, Haare. Alles passiert so schnell, dass ich keine Zeit habe, um nervös zu werden. Gerne hätte ich einen Slow-Motion-Knopf, um das ganze intensiver geniessen zu können. Ich sehe auf den vielen Screens, dass ich im TV bin – „surreal“ schiesst mir durch den Kopf, da kommt bereits die nächste Frage von Jann Billeter. Nur kurz nach dem Interview stehe ich bereits auf dem Siegerpodest und sehe mich – dieses Mal auf den riesigen Stadion-Bildschirmen – den Zuschauern und der Fahne des ckr-Fanclubs zuwinken. Die Vorstellung, dass viele meiner Freunde und meiner Angehörigen im Stadion sitzen und ich diesen Moment mit ihnen teilen kann, stellt mir zum x-ten Mal an diesem Tag die Haare zu Berge.

Burger

Nach der Seigerehrung werden wir von Helfern durch die Letzigrund-Gänge in die VIP-Loge gespült. Dort erhalten wir neben Kariem Hussein, dem frisch gebackenen Europameister über 400m Hürden, einen frischen Burger mit Pasta serviert. Diese spezielle Kombination hatte Adrian Lehmann zuvor scherzhaft bei Patrick Magyar, dem CEO der EM, für uns bestellt. Es ist der beste Burger seit Langem!

Schlecht geschlafen, aber nicht wegen der Medialle unter dem Kopfkissen, sondern wegen dem Kino im Kopf.

Schlecht geschlafen, aber nicht wegen der Medialle unter dem Kopfkissen, sondern wegen dem Kino im Kopf.

Abend-Programm

Per Tram geht es nach der Abend-Session zum House of Switzerland auf dem Sechseläutenplatz, wo die #SwissStarters von den Fans empfangen werden und die EM mit der letzten Lichtprojektion auf das Opernhaus sein Ende findet – erneut ein Hühnerhaut-Moment. Danach feiern die Schweizer Marathon-Männer die offizielle Abschluss-Party als einzige Athleten im Trainer statt im Ausgangs-Outfit. Es sei uns verziehen. Dafür tragen wir Bronze unter dem T-Shirt, denn es war uns doch etwas zu riskant, diese an der Garderobe abzugeben. Die Temperatur im Party-Lokal ist dermassen heiss, dass das Kondenswasser von der Decke tropft. Unser Leidenswillen ist nach dem Mammutprogramm dieses Tages ziemlich schnell aufgebraucht. Zurück im Team-Hotel schaue ich mit meinen Zimmerkollegen Michael Ott die Wiederholung des SRF Sportpanoramas und beenden einen der emotionsreichsten Tage unseres Lebens sowie – nach fast 24 Stunden auf den Beinen – den zweiten „Marathon“ des Tages.

Der Tag danach

Ich erwache. Der erste Griff geht nicht wie sonst zum Wecker sondern unter das Kopfkissen: Ja, die Medaille ist noch da! Es ist erst sechs Uhr morgens, ich bin hellwach und an Schlafen ist nicht mehr zu denken. Ich browse durch die unzähligen Mitteilungen auf meinem Mobiltelefon. Ich freue mich riesig über jede einzelne Nachricht und beginne mit dem Antwort-Marathon. Ein ausgiebiges Frühstück beendet das Abenteuer „Heim-EM“ endgültig. Die Athleten verstäuben in alle Richtungen. Für alle ist es das Ende eines langen Weges. Wie weiter? Wir wissen es alle nicht.

 

Das Ende eines langen Weges. (Bild: athletix.ch)

Das Ende eines langen Weges. (Bild: athletix.ch)