Es gibt bereits unzählige Berichte, Blogs, Bücher, Filme, ja selbst wissenschaftliche Artikel, die den Geheimnissen der kenianischen LangstreckenläuferInnen auf die Schliche kommen wollen. Elf dieser „Geheimnisse“ habe ich vor Ort im Selbsttest für Euch ausprobiert.
Ugali
Ugali ist weisses Mais-Mehl, das im Wasser gekocht wird und zu einer klebrigen Masse erstarrt. Dies soll der Hauptbestandteil der Ernährung der kenianischen WunderläuferInnen sein.
Im Selbsttest hat sich gezeigt, dass dieser weisse Klumpen 100% geschmacklos schmeckt – vergleichbar mit klebrigem Griesbrei. Ausgekühlt wird das Material ziemlich hart – man könnte es also prima als Spachtelmasse verwenden. Warm und zusammen mit einem Gemüse-Curry ist Ugali aber durchaus essbar – Kiefermuskel-Training inklusive. Auch die süsse Variante mit Schokoladenpulver, Zimt-Zucker und/oder Früchten ist fein, wobei das Ugali in beiden Fällen nur die Funktion des Magenfüllers übernimmt und aus gefühlten 100% Kohlenhydraten besteht. Trotz des hohen Eigengewichtes und der Kompaktheit von Ugali fühlte sich mein Magen beim Training 3 Stunden nach dem Verzehr nicht voll an. Es scheint mir einigermassen leicht verdaulich und somit durchaus geeignet, um als Läufermahlzeit zu bestehen.
Erholung
Die Kenianer sind Weltmeister im Erholen. Im Gegensatz zu uns verzichten sie in ihrer trainingsfreien Zeit darauf in der Gegend herum zu rennen. Gemäss meinen Informationen beschäftigen sich die Einheimischen in ihren Camps vor allem mit Waschen und Kochen. Sonst haben sie wenig Ablenkung. Bei Sonnenuntergang ist Nachtruhe.
Selbsttest: Waschen, Kochen und Einkaufen bleiben mir im Hotel glücklicherweise erspart. Dafür schreibe ich ab und zu einen Tweet oder setze den einen oder anderen Facebook Post ab. In der ersten Woche habe ich hier noch das Dorfzentrum, ein regionales Cross und einen Halbmarathon besucht. Danach ist es sehr ruhig geworden und der Tagesablauf besteht hauptsächlich aus Trainieren, Schlafen, Essen und Lesen. Neun Bücher habe ich mitgenommen und mindestens einen #ckrBLOG Eintrag möchte ich absetzen (sic!). Die Erholung zahlt sich aus und ich geniesse sie in vollen Zügen. Es ist immer wieder faszinierend, wie viel mehr Quantität und Qualität Geist und Körper in einem Trainingslager ertragen (ohne den ganzen Haushalts-, 50%-Arbeits-, Internet- und Administrativ-Stress).
Frühstart
Die Einheimischen hier in Iten beginnen Ihre Dauerläufe jeweils um 06:15 in der Frühe – kurz vor dem Sonnenaufgang. Weil sie mit dem Sonnenuntergang zu Bett gehen und Iten ziemlich genau auf dem Äquator liegt, kriegen sie so jede Nacht 12 Stunden Schlaf. Ein weiterer Vorteil des frühen Trainings liegt darin, dass die beiden Trainings pro Tag weit auseinander liegen und die Erholung dazwischen maximal ist.
In der Schweiz habe ich oft Mühe mit den Morgentrainings (siehe hier). Dank der oben erwähnten Erholung, dem Mittagsschlaf und dem frühen LiLö (Nachtruhe) habe ich hier damit gar keine Probleme. Kommt dazu, dass die Landschaft überall sehr ähnlich aussieht; es ist darum abwechslungsreich die vielen Läufe mit den Tageszeiten und dem unterschiedlichen Sonnenlicht zu variieren.
Langarm
Was einem auffällt: Alle einheimischen LäuferInnen tragen bei ihren Trainings lange Kleider. (Ausnahme sind die Trainings auf der Bahn.) Bei bis zu knapp 30° warmen Temperaturen gehören lange Tights mit Trainer-, oder gar atmungs-inaktiven Regenjacken zur Standardausrüstung.
Für das Selbstexperiment habe ich mich auf das Morgentraining (bei ca. 10-15°) während den ersten zwei Tagen beschränkt. Ich konnte beim besten Willen keinen Vorteil darin erkennen, mehr als üblich zu schwitzen und habe in der Folge für alle Trainings auf kurz/kurz umgestellt. Ausserdem wollte ich meinen TrainingskollegInnen die olfaktorische Schweiss-Belastung ersparen.
Höhe
Die Theorie ist bekannt: grössere Höhe -> weniger Sauerstoff -> Körper „gestresst“ -> bildet mehr rote Blutkörperchen -> verbesserter Sauerstofftransport -> neue PB im Flachland.
Die Effekte der Höhe (Iten liegt auf ca. 2400 m. ü. M.) spürte ich vor allem in der ersten Woche des Trainingslagers extrem. Trotz gemächlichem Tempo, schnellte der Puls bei jedem Anstieg (und davon gibt es in Iten viele – eigentlich gibt es hier ausschliesslich An- und Abstiege) in den roten Bereich – in einem Masse, dass sich die Herzfrequenz meines Leistungsdiagnostikers vom Anblick der Trainingsauswertung an meine synchronisiert hätte. Darum gilt hier: Höre auf Dein Körpergefühl und trainiere nicht nach Kilometer, Stunden oder Minuten.
Motivation
KenianerInnen leben hier unter einfachsten Bedingungen und in Armut. Unter Umständen, die wir uns als SchweizerInnen nicht vorstellen können. Viele sehen im Laufen eine Möglichkeit zum Ausweg aus diesem beschwerlichen Leben. Angetrieben von den vielen erfolgreichen Beispielen (OlympiasiegerInnen, WeltmeisterInnen, Major MarathongewinnerInnen) rennen sie täglich für ihren Traum vom grossen Geld. (Wir müssen dafür nur sechs richtige Zahlen ausfüllen.) Kommt hinzu, dass die Einheimischen vom harten Leben geprägt sind. In den Gesprächen mit ihnen über ihren Alltag fällt immer wieder das Wort „Hardship„, womit sie sich auch den starken Willen für den beschwerlichen Weg eines Langstreckenläufers erklären.
Ein Selbsttest ist in diesem Fall unmöglich. Ich bin von all den Annehmlichkeiten zu Hause (und hier im Hotel) verwöhnt und weiss, dass in der Schweiz der Wohlstand auf mich wartet. Ich muss nicht laufen, um Geld zu verdienen, sondern ich darf laufen, weil es mir Spass macht – was ich als grosses Privileg sehe. (Dazu vielleicht in einem späteren Blog mehr.)
Unflach
Die Trainingsstrecken in Iten sind nie flach. Pro 10 Kilometer Training schlagen etwa 200 Steigungsmeter zu Buche. Dass die Einheimischen bei den Steigungen eher etwas schneller laufen und bergab eher locker traben, trägt vielleicht zum positiven Trainingseffekt bei. Statt sich über die langsame Pace des Trainings zu ärgern, sollten wir westlichen Lauf-Touristen uns über das gratis Zusatztraining freuen.
Dieser Selbsttest strapazierte meine Geduld. Kombiniert mit dem Höheneffekt lief ich die Trainings ca. 30 bis 60 Sekunden pro Kilometer langsamer als gewohnt. Zur Schonung der Nerven begann ich nach einigen Tagen strikt die Pace auf der GPS-Uhr zu ignorieren und „nur“ noch meinen Puls und mein Gefühl zu beachten. Auf diese Weise lernte ich die coupierten Strecken sehr zu schätzen. Ich bin überzeugt, dass das ständige Auf und Ab ein hervorragendes zusätzliches Krafttraining ist. Ausserdem wäre ich für die nächste EM mit Berglauf-ähnlichem Parcours nun noch besser gewappnet – schade, dass diese in Amsterdam stattfinden wird.
Unebenheiten
Ebenso gewellt wie das Streckenprofil ist der Untergrund. Es gibt zwar eine (!) Teerstrasse hier in der Umgebung, aber wem das Leben lieb ist, der läuft keine Sekunde auf diesem rechtsfreien Streifen. (Bis jetzt habe ich kein einziges Verkehrsschild gesehen.) Ebenfalls besteht die lokale 400 Meter Bahn – eigentlich sind es 408 Meter – nicht aus einer geheimen, hochgezüchteten Poly-irgendetwas Tartan-Mischung, sondern ganz einfach aus Staub – mit einer leichten Kuh-/Schafmist-Note. Kann auch mal vorkommen, dass sich eine kleine Schlange darauf verirrt.
Somit bleibt nichts anders übrig, als sich an die staubigen „Dirt-Roads“ zu halten. In diesem Punkt wurde ich zum Selbsttest „gezwungen“ – noch ein gratis Zusatztraining: Mühsames Krafttraining auf dem Wackelbrett kann man sich sparen, denn die Muskeln im Fussgelenk sind pausenlos am Arbeiten. Ebenso ist der Kopf beschäftigt, weil ständige Konzentration gefordert ist und man den Blick nur Halb-Sekundenweise vom Boden entfernen kann. Zum Glück gewöhnt man sich daran. Nach einigen Trainings kann der altbewährte Single-Core Prozessor ckr_1981 die hochkomplexen Rechenoperationen im Hintergrund abwickeln und endlich in den Multitasking-Modus schalten: laufen, sprechen und Umgebung geniessen sind parallel wieder möglich. Ein weiterer Vorteil des „dreckigen“ Untergrundes ist dessen Sanftheit. Zusammen mit einer adidas Boost Sohle sind die Schläge auf den Bewegungsapparat gedämpft und die Verletzungsgefahr ebenso. Noch nie haben sich meine Muskeln/Bänder/Sehnen nach fast 400km Trainingskilometer so „geschmeidig“ angefühlt (*Holz_anfassen*). Dies hängt vielleicht auch mit der grundsätzlich tieferen Trainingsgeschwindigkeit zusammen – siehe oben (Höhe, Unflach). Muss man mal die Teer-Strasse überqueren (Überlebensinstinkt schaltet an – alles in Zeitlupe) und zehn Schritte auf Asphalt laufen, dann hat man das Gefühl temporär eine 6.2 Kilogramm schwere Waffenlauf-Packung zu tragen – dermassen in den Boden haut es einem mit jedem Schritt.
Körperbau
Kenianer sind schlank und klein und darum designt für schnelles Laufen. Das liegt in der Genetik, sagen die einen. Dann kommt noch eine Prise „natürliche Selektion“ dazu und schon ist der Wunderläufer erklärt.
Schlank bin ich (ca. 68 kg bei 186 cm) – zumindest für europäische Verhältnisse. Die Einheimischen hier sind viel feiner gebaut: Fussfesseln so dünn wie meine Handgelenke sind keine Seltenheit. Zudem sind die meisten Langstreckenläufer sehr klein – die sehen nur im TV so gross aus. Sehe ich mich also auf der Bahn mit den Kenianern laufen, dann gleicht es Asterix gegen Obelix (ohne Zaubertrank!), Rennrad gegen 29 Zoll Mountainbike, Roadster gegen SUV.
Laufstil
Es stimmt, hier laufen viele einheimische Läufer mit einem wunderschönen Laufstil, bei dem sie auf dem Mittelfuss oder Vorfuss auf dem Boden landen. Die Theoretiker sagen, dass dies vom vielen Barfuss-Laufen kommt. Ich habe aber hier noch keinen einzigen Läufer ohne Schuhe gesehen – auch keine Kinder. Ausserdem habe ich nicht wenige Fersenläufer, Kopfwipper, Oberkörperdreher, Überpronierer, Tiefsitzer und Armruderer beobachtet. Ich denke also, dass die Theorie des Barfusslaufens heute nicht mehr ganz stimmt. In Europa und an Grossanlässen laufen nur die Besten der Besten; somit ist die Chance einen schönen Laufstil zu sehen einfach grösser.
Kein Selbsttest. Meine Füsse hätten barfuss auf den Dirt-Roads keine 10 Meter überstanden.
Schulweg
Es kennen alle die berühmte Geschichte von den LäuferInnen, die als Kind kilometerweise rennend zur Schule gependelt sind. Es gibt hier werktags tatsächlich viele Schulkinder. Ab und zu läuft einem auch das eine oder andere eine Weile lang nach (grosses Frustpotential für den Halbprofi). Grundsätzlich aber wird hier nicht gerannt, sondern eher sehr gemächlich marschiert (gefühlte 20 Minuten pro Kilometer). Ich denke also, dass diese Geschichte mit den zur Schule rennenden Kindern nicht mehr ganz stimmt. Vielleicht kommt dies daher, dass es mittlerweile mehr Schulen gibt und die Wege kürzer sind. Dennoch werden die Kinder mit dem Laufvirus infiziert, denn sie sind tagtäglich mit Horden von kenianischen „Wunderläufern“ konfrontiert. Laufen ist für alle eine Selbstverständlichkeit, so dass mich auf meinem Longrun auch schon mal ein netter Fussgänger in Winterjacke und Jeans (ich im Singlet) vorübergehend für ca. fünf Kilometer (in 20 Minuten) laufend begleitet hat.
Die Kreienbühlsche Keniageheimnis-Matrix
Kopierbarkeit einfach |
Frühstart Langarm |
Unflach Unebenheiten |
Erholung |
Kopierbarkeit mittel |
Ugali | Laufstil | Höhe |
Kopierbarkeit schwierig |
Schulweg | Motivation Körperbau |
|
klein | mittel | gross | |
Leistungssteigerung |
Die „low-hanging fruits“ sind also in den Bereichen „Unflach“, „Unebenheiten“, „Erholung“ und „Höhe“ zu pflücken. Oder anders ausgedrückt: Ein Höhentrainingslager in St. Moritz mit seinen coupierten Trails kombiniert mit viel Erholung (einfach mal das Smartphone ausschalten) könnte Dich vielleicht ebenso gut zur nächsten Bestzeit führen, wie den weiten Weg nach Kenia auf Dich zu nehmen. Ob das kenianische Erfolgsrezept für mich aufgeht, werde ich im Rahmen der Schweizer Cross Meisterschaften in Lausanne (28. Februar 2015) herausfinden1.
- Video: Iten Cross
- Video: Bahntraining Kamariny
- Video: Eldoret Halbmarathon
- Bilder: Erste Woche
- Bilder: Zweite Woche
- ckr Fanclub Blog: Trainingslager in Kenia
Inspiriert wurde dieser Artikel von:
- Blog: Jan Fitschen
- Buch: Running with the Kenyans
- Buch: More Fire: How to Run the Kenyan Way
- Dokumentationen: etliche
1 Autor, Coach und Umfeld übernehmen keinerlei Gewähr für einen guten Formstand oder einen guten Wiedereinstieg in die Wettkampfsaison, da im Rahmen von Höhentrainingslagern das gemeine „akute Höhenloch“ auftreten kann. Zeitpunkt, Dauer und Intensität des temporären Formtiefs sind individuelle Parameter und unterliegen den Gesetzen der Natur. Haftungsansprüche gegen den Autor, welche sich auf Schäden materieller (e. g. Wettschulden) oder ideeller Art (e. g. Kredibilitätsverlust) beziehen, die durch verminderte Leistungsfähigkeit und schlechter Wettkampfergebnisse des Autors oder der Leserin / des Lesers verursacht wurden, sind grundsätzlich ausgeschlossen. Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird in den Texten auf dieser Website der Einfachheit halber manchmal nur die männliche Form verwendet. Die weibliche Form ist selbstverständlich immer mit eingeschlossen.