Tabu

Viele Athletinnen und Athleten dokumentieren und publizieren ihr sportliches Leben bis ins Detail. Die sozialen Netzwerke sind voll von…

  • erfolgreich gemeisterten Trainingseinheiten (39km im 3:32 Schnitt vor dem Frühstück ohne Schlaf – rückwärts bergauf mit Puls 110 #imthebestfucktherest),
  • gesunder Ernährung (Chia-Samen-Avocado-Goji-Beeren-Soja-Tofu-Smoothie #foodporn #vegan),
  • materiellen Errungenschaften vom Lieblings-Sportartikelhersteller (Running on Meta-Boost-Flyknit-Clouds #blingbling) oder
  • ausgedehnten Erholungsmassnahmen (chillaxing @ beach with my bestie & electric muscle stimulator #recoverhard #compressionbikini).

Für das detaillierte Trainingstagebuch gibt es gar eigens dafür entwickelte soziale Netzwerke (zum Beispiel Strava). Was jedoch kein Sportler jemals erwähnt – weder auf Social Media, noch in Gesprächen – sind seine Einheiten für mentales Training.

Das kann zwei Gründe haben: Entweder macht kein Sportler jemals mentales Training, oder aber – und das glaube ich eher – das Thema ist für viele ein Tabu. Mentaltraining oder gar eine Sitzung beim Sportpsychologen öffentlich zuzugeben, käme einem Geständnis gleich mental schwach zu sein. Schwachsinn! Denn Training macht stärker. Ansonsten dürfte ja auch kein Läufer jemals über sein Lauftraining sprechen, weil er damit zugeben würde, dass er nicht schnell laufen kann.

Kein Athlet dürfte über sein Lauftraining sprechen, weil er damit zugeben würde, dass er nicht schnell laufen kann.

Mentale Stärke

Einige Marathonrennen beendete ich mit einem so genannten „Negativ-Split“: Ich lief die zweite Hälfte schneller als die erste. Da hörte ich von jemandem schon mal die Bemerkung, ich sei „mental stark“. Aber was meinen die Leute damit genau?

Ein „mental starker“ Athlet vermag bei seinem Wettkampf möglichst viel eines sportlichen Leistungspotentials abzurufen. Der mental stärkste Athlet kann im entscheidenden Moment 100% seines Potentials zeigen.

Mir wurde klar, dass mich mentale Aspekte daran hindern, noch schneller zu laufen.

Verbesserungspotential

Im letzten September lief ich den BMW Berlin-Marathon in 2:13:57 – 3 Sekunden unter der Olympia-Limite. Die zweite Hälfte legte ich deutlich schneller zurück (67:37 vs. 66:20). Im Nachhinein würde ich sagen, dass ich vielleicht 90-95% meines Potentials abrufen konnte. Einerseits hätte ich mit etwas mehr Mut und einer regelmässigeren Einteilung während des Wettkampfes Kraft gespart. Andererseits verpuffte ich in der Woche vor dem Wettkampf enorm Energie: Ich wusste, dass die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Reichweite lag, darum befand ich mich während Tagen in einem nervösen Zustand von „Überaktivierung“. Nach dem Wettkampf viel ich in eine Phase der Leere und brauchte lange, bis ich meinen gewohnten Trainingsrhythmus wieder fand.

Mir wurde klar, dass mich mentale Aspekte daran hindern, noch schneller zu laufen.

Kontaktaufnahme

Kurz nach dem BMW Berlin-Marathon fand in Magglingen ein von Swiss Olympic organisiertes Kick-Off für die Olympischen Sommerspiele in Rio statt. Dabei lernte ich Jörg Wetzel kennen, den designierten Sportpsychologen des Swiss Olympic Teams. Dankenswerterweise schickte er mir nach dem Event eine Ausgabe seines Buches „Gold – Mental stark zur Bestleistung“ – mein erster Kontakt mit den Themen Sportpsychologie und mentales Training.

Zufälligerweise kam wenig später jemand ausserhalb des Sports auf mich zu und erkundigte sich, ob ich auch im „mentalen Bereich“ arbeite; er würde da jemanden kennen. Ich verneinte. Aber dieser Jemand spendete mir spontan 10 Stunden Training bei seinem eigenen Mental-Coach. Trotz einigen Zweifeln konnte ich nach den Erfahrungen in Berlin dieses Angebot unmöglich ablehnen. Ausserdem stand das 4-wöchige Trainingslager in Kenia kurz bevor und die Ausrede „ich hätte keine Zeit“ entfiel demnach auch. In den folgenden 4 Wochen im Land der Wunderläufer traf ich mich insgesamt 16 Stunden lang mit meinem neuen Mental-Coach. Er ist ehemaliger Spitzen-Schwimmer, wohnt in Mumbai (Indien) und die „Sitzungen“ fanden via Video-Chat statt.

Mentales Training

Was macht man nun 16 Stunden lang mit einem Mental-Coach? Ich hatte vor dem ersten Training keine Idee davon und war ziemlich skeptisch.

  • Würde es ein „gspürschmi-fühlschmi“ Seelenstriptease?
  • Müsste ich eine Kleenex-Box neben meinem Laptop griffbereit halten?
  • Würde er die Skype-Session aufzeichnen und auf YouTube veröffentlichen?
  • Lässt der Typ mich einfach 30 Minuten mit geschlossenen Augen vor dem Notebook sitzen und lacht sich ins Fäustchen ob der leicht verdienten Kohle?

Zum Glück lösten sich meine anfänglichen Vorurteile bald in Luft auf.

Natürlich arbeiteten wir an der Nervosität vor dem Marathon (aber nicht nur). Das geht mit Visualisierung, Meditation und Atemübungen. Damit werde ich eine mögliche Über-Aktivierung auf eine vorfreudige Spannung senken können. Ich musste aber lernen, dass es wie beim Krafttraining gar nichts nützt, wenn man zwar weiss wie eine Übung theoretisch funktioniert, diese aber nicht regelmässig trainiert.

Zum Coaching gehörte auch negative Grundsätze zu lösen, die in einem verankert sind. Diese wiederum beeinflussen unsere Emotionen, welche wiederum unser Handeln bestimmen. Ich stelle mir das vor wie bei einer Massage: Verklebungen werden gelöst und die (mentale) Durchblutung wird gefördert.

Eigentlich wollte ich in erster Linie ein Mittel, um die Nervosität und die Über-Angespanntheit vor dem Wettkampf in den Griff zu kriegen. Nun habe ich nicht nur ein Instrument für den Wettkampf, sondern ebenso für das tägliche Training (was mindestens so wichtig ist) und für den Alltag neben dem Sport. Dadurch kann ich generell positiver und ausgeglichener leben. Nur wer sich längerfristig in einem zufriedenen Gleichgewicht befindet, kann körperlich Überdurchschnittliches leisten. Darüber wird sich auch mein Umfeld freuen. Schlussendlich macht mich das mentale Training nicht schneller, aber es macht mich weniger langsam.

Nur wer sich in einem zufriedenen Gleichgewicht befindet, kann Überdurchschnittliches leisten.

 

Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird im Text der Einfachheit halber nur die männliche Form verwendet. Die weibliche Form ist selbstverständlich immer mit eingeschlossen.