Der Gedanke: Vater aller Dinge
Während unzähligen Dauerläufen hat man viel Zeit, um sich über die unmöglichsten Dinge den Kopf zu zerbrechen. Manchmal schaue ich zurück auf mein Leben. Ich frage mich zum Beispiel, wie die letzten zehn Jahre vom Hobby-Jogger zum WM- und EM-Marathonläufer möglich sein konnten. Ich frage mich, wie ich mich vor zehn Jahren gefühlt habe und warum ich jetzt da bin, wo ich jetzt bin. Und wie unmöglich sich der Gedanke einer möglichen Teilnahme an Olympischen Spielen angefühlt hätte, hätte ich diesen damals gedacht.
Ebenfalls frage ich mich vor allem in Trainingslagern, wie unsere Umgebung so ist, wie sie ist. Wie ist beispielsweise diese unfassbar schöne Natur im Oberengadin entstanden?
Der Schritt: mächtig in grossen Mengen
Wo liegt nun der Zusammenhang zwischen dem erfolgreichen Unterbieten der Olympia-Limite und der traumhaften Engadiner Berglandschaft? Beide sind das Resultat eines langen Weges, der mit vielen kleinen Schritten zu einem grossartigen Ergebnis geführt hat. Im Falle der Natur haben Wind und Wetter über Millionen von Jahren – Stein für Stein – die Gegend genauso geformt, wie sie jetzt ist. Ähnlich ist es mit der Olympia-Norm: Über zehn Jahre haben meine Trainings – Schritt für Schritt – meinen Organismus genauso trainiert, wie er jetzt ist.
Ich finde es faszinierend, wie durch viele kleine Schritte, etwas Grossartiges – vorher Unvorstellbares – entstehen kann. Geht man jeden Tag einen kleinen Schritt in die richtige Richtung, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man sein Ziel erreicht.
Geht man jeden Tag einen kleinen Schritt in die richtige Richtung, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man sein Ziel erreicht.
Der Eisberg: nur Spitze sichtbar
Das Typische daran ist, dass man im Resultat die einzelnen Schritte nicht erkennen kann. So wird man in der externen Wahrnehmung auf das Resultat reduziert – also ob man ein tolles Rennen zeigt, oder nicht. Die hunderte vorangegangenen Trainings werden unsichtbar, obwohl darin eigentlich die grosse Leistung besteht.
Die Zahlen: Sichtbarkeit der Schritte
Darum bin ich fasziniert von den Zahlen meines Trainingstagebuches. Sie machen die vielen Schritte sichtbar. Im Jahr 2015 habe ich beispielsweise 100’000 Höhenmeter zurückgelegt. Das entspricht der Distanz von der Erde bis zum Ende der Stratosphäre und zurück.
Das Virus: Schritte bergen Ansteckungsgefahr
Viele kleinen Schritte können erstaunliche Resultate erbringen. Warum aber nicht einen einzigen grossen Schritt machen? Das scheint nicht möglich zu sein. Es braucht die Vorangehenden, um Neues zu schaffen. Wenn man den Marathon mal unter drei (oder vier) Stunden geschafft hat, schafft man es immer wieder. Es ist einfacher die Grenze langsam und schrittweise zu verschieben als in einem Stück. Interessanterweise ist dies ansteckend: Nachdem die Meile zum ersten Mal (endlich) in unter vier Minuten gelaufen wurde, schafften dies innert kürzester Zeit viele weitere Läufer spielend.
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Der Multiplikator: Resultat mehr als die Summe der Schritte
Um beim Beispiel der Natur und des Trainings zu bleiben: Ein einzelner Stein – oder ein einzelnes Training – ist für das Resultat völlig irrelevant. Aber im Ganzen sind die einzelnen Teile mehr als ihre Summe (Aristoteles).
Ein schönes Beispiel ist das Mosaik. Ein einzelner Stein ist zwar schön, aber erst in der Summe ergeben die Teilchen ein noch schöneres Bild. Ebenso ist der Mensch zwar eine Ansammlung von Molekülen, aber in seinem Ganzen die faszinierendste „Maschine“, die man sich vorstellen kann.
Dieser Text: auch ein Eisberg
Genauso schrittweise ist dieser Text entstanden. Vor Monaten hatte ich die ersten Notizen dazu gemacht. Im Laufe der Zeit sind mehr und mehr Gedanken dazugekommen. Worte wurden geschrieben (im Trainingslager, im Flugzeug, im Café, zu Hause) und nun ist es ein (hoffentlich) zusammenhängender und verständlicher Text geworden. Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz in die richtige Richtung.