#ckrBLOG – Dragon’s Back Race 2019
Wie funktioniert das Rennen?
Damit man die folgende Berichterstattung versteht, muss ich kurz die etwas komplizierte „Funktionsweise“ des Rennens erklären.
Das Dragon’s Back Race ist ein 5-tägiges Etappen-Rennen von Nord- nach Süd-Wales in Grossbritannien. Insgesamt werden 315km und 15’500 Höhenmeter zurückgelegt. Die Strecke ist nicht markiert. Jeder Läufer erhält vor dem Rennen eine wetterfeste Karte, welche die empfohlene Route zeigt. Gemäss Veranstalter verläuft 22% der Gesamt-Route „trackless“ und 40% auf „single tracks“. Wobei Single Tracks und Trackless in Wales etwa das Gleiche ist: kein Weg, weit und breit. Somit läuft man 62% über Wiesen, Geröll, Sumpf, Gebüsche, Steine und Schaf-Dung. Pro Tag müssen etwa 10-20 Kontrollpunkte angelaufen und elektronisch abgestempelt werden. Wer einen Kontrollpunkt nicht erwischt, wird disqualifiziert. Pro Tag gibt es einen oder zwei Kontrollpunkte, mit „Cut Off“-Zeiten. Wer nach dieser angegebenen Uhrzeit beim Kontrollpunkt wegläuft, wird disqualifiziert. Starten kann man jeden Tag individuell zwischen 06:00 und 09:00. Wer nach 23:00 im Tagesziel ankommt, wird disqualifiziert. Das Überqueren von Zäunen oder Steinmauern ist grundsätzlich verboten. Auf einigen Streckenabschnitten gibt es eine Pflicht-Route. Wer diese 3x verfehlt, wird disqualifiziert. Übernachtet wird in 8er Zelten, welche von Freiwilligen jeweils im Tages-Zielgelände aufgestellt werden. Ein 60-Liter Sack wird vom Veranstalter täglich zum nächsten Zielgelände transportiert. Im Zielgelände steht Verpflegung zur Verfügung, welche jedoch nicht eingepackt oder vom Essens-Zelt hinausgetragen werden darf. Die Wettkampf-Verpflegung für unterwegs müssen alle Teilnehmenden selber mitbringen und während des Rennens selber mitführen – neben einigem Pflicht-Material. Teile des Pflicht-Materials werden täglich allen Teilnehmenden kontrolliert. Fehlt 3x etwas, wird man disqualifiziert. Einmal pro Tag (bei der mittäglichen „Cut Off“-Zeit) kann man einen 22-Liter Sack deponieren lassen (“Drop-Bag”), der maximal 5kg schwer sein darf. Dies wird vor dem Abgeben täglich bei allen Teilnehmenden kontrolliert! Darin verstaut man beispielsweise zusätzliche Verpflegung, Ersatz-Kleidung und Ähnliches.
Wie man sieht, ist das Dragon’s Back Race für einen Büro-Gummi-, Strassen-Marathon-, vom-Hotel-im-VIP-Bus-an-die-Startlinie-chauffierten-, hoch-Muskel-tonisierten-, möchtegern-Elite-Läufer nicht nur logistisch eine grössere Herausforderung, sondern auch sportlich: Kilometer-weit ausserhalb seiner Komfort-Zone.
Warum tut man sich das an?
Warum tat ich dies meinem hochgezüchteten Elite-Marathon-Körperchen an? Auch ich fragte mich dies ab und zu. Die Idee, einen Ultra-Trail-Run zu absolvieren, entwickelte sich über längere Zeit während des Grundlagen-Marathon-Trainings. Wenn man im Wohlfühl-Tempo unterwegs ist, hat man doch manchmal das Gefühl unendlich weit laufen zu können. Genau dies wollte ich ausprobieren. Irgendwann im 2014/2015/2016 hatte ich einen Artikel über das Dragon’s Back Race gelesen, welcher mich faszinierte. Die Kombination einer naiven Vorstellung eines Trail-Laufes mit der temporären Selbstsicherheit eines Insta-Influencers und der Anwesenheit des Ultra Trail Silberrücken Roger „Rats“ Coray führten an meinem Polterabend im 2017 zu ebendieser folgenschweren Bier-Idee. Wir hatten bei der Abmachung keine Ahnung über die oben genannte Logistik – wir dachten, es sei ein längeres Eintages-Rennen mit markierter Strecke. Je mehr wir uns über das Rennen informierten, desto mehr rieben wir uns die Augen. Uns wurde erst allmählich klar, auf was wir uns da eingelassen hatten. Aber abgemacht war abgemacht: Am 2. Mai 2018 – also mehr als ein Jahr vor dem Start – meldeten wir uns für die 2019-Ausgabe des Rennens (Start am 20. Mai 2019) an. Das Rennen findet ja schliesslich nur alle zwei Jahre statt. Schritt für Schritt bereiteten wir uns vor, kauften Material, reservierten Hotels und fluchten – äh buchten Flüge. Ein halbes Jahr vor dem Lauf waren wir logistisch und organisatorisch bereit – Trainings-technisch noch nicht.
Wie bereitet man sich darauf vor?
Keine Ahnung. Ich hatte wirklich keinen Schimmer, wie man sich auf ein solches Rennen vorbereitet. Eigentlich hatte ich überhaupt keine Ahnung, wie man sich über irgendein Rennen vorbereitet, das länger als 42.195km ist.
Ich dachte, es würde vielleicht Sinn machen, sich mit der Ausrüstung bekannt zu machen. In vorausgesehener Dragon’s Back Race-Konfiguration startete ich bereits anfangs Dezember 2018 (einem halben Jahr vor es Ernst galt) zu einem Traillauf-Training Richtung Schnebelhorn. Ich genoss die neue Erfahrung, dass man bergauf auch mal gehen „durfte“ und beendete das den Trainingslauf ausgehungert und in Dunkelheit (da ich mich masslos überschätzt hatte).
Als nächstes lief ich flache, dafür für meine Verhältnisse längere Läufe:
Diese Trainingseinheiten liefen ziemlich gut, leider beinhalteten sie kaum (bergab) Höhenmeter, was mir jedoch erst im Rennnen schmerzlich bewusst wurde (höllischer Muskelkater ab der ersten Etappe). Dafür startete ich mit viel Grundlagentraining im Tank eine Woche vor dem Dragon’s Back Race (DBR) noch beim Halbmarathon in Strasbourg und lief bescheidene 1:06:55.
Tag 1 – Die Euphorie
Dann ging es endlich los. Erholt vom Strasbourg Halbmarathon flogen wir eine Woche später gut gelaunt in die Männer-Ferien nach Wales. Angekommen im Hotel gönnten wir uns den ersten Pint. Es sollte nicht der letzte gewesen sein vor dem Start. Nachdem wir in der letzten Nacht mindestens 5x unsere Rucksäcke ein- und ausgepackt und unsere Speicher mit frittiertem Pub-Food gefüllt hatten, machten wir uns (für mich) in Allerhergottsfrühe an die Startlinie. Natürlich hatte mein Kollege Rats mit seinen 8 Halbliter-PET-Flaschen Coca Cola mehr als die erlaubten 5kg in seinem Drop-Bag – es wurde jeder einzelne gewogen.
Als wir endlich alles abgegeben hatten und am Start des Rennens standen, entschied sich spontan der Haupt-Trageriemen meines Wettkampf-Rucksackes zu reissen. Zack – Adrenalin-Schub. Mein Kollege merkte es nicht. Ich behielt das ganze 30 Sekunden für mich. Überlegte fieberhaft, wie ich den Bändel flicken könnte. Zuerst ärgerte ich mich über mein Material: Wie sollte ich es an die Ziellinie schaffen, wenn sich der wichtigste Ausrüstungsgegenstand schon vor dem Startschuss verabschiedet? Aber genau darum hatte ich mich doch angemeldet: Sich auf etwas einlassen, wo man nicht alles planen kann; wo man improvisieren muss und man nicht locker in einer Grossstadt sein klinisch sauber einstudiertes Wettkampfmuster abspulen kann. „Hey Rats, darf ich zwei Deiner Sicherheitsnadeln haben?“ „Klar, was ist passiert?“ Und dann wurde er noch bleicher, als ich wohl war. Auf jeden Fall haben die insgesamt 4 Sicherheitsnadeln den Rucksack für die gesamten 315km zusammengehalten.
Die letzten Takte des Männerchors verstummten, der Renndirektor hielt noch eine Rede und dann ging es endlich los. Das heisst, wir wanderten über die Burg und die Stadtmauern hinaus aus Conwy Richtung Tagesziel. Die Wege waren anfangs sehr eng und die Teilnehmer breit, darum war an ein Joggen zuerst gar nicht zu denken. Nach etwa 3km steckte jede und jeder seinen Chip in den Sensor. Ab dann wurde offiziell die Zeit genommen und man hatte endlich genügend Platz, um zu rennen.
Ich startete mit Rats, aber ziemlich schnell merkten wir, dass wir das Rennen alleine laufen müssen. Ständig zu bremsen oder Gas zu geben wäre für beide strenger gewesen, als es sonst schon war. „Tschau Rats, bis später.“
So war ich auf mich alleine gestellt. Wie schnell sollte man laufen? Wie sollte man den Weg finden? „Immer ganz wenig schneller als der Durchschnittsläufer.“ und „Immer dem Tatzelwurm der LäuferInnen folgend – stets auf der Karte den aktuellen Standort nachvollziehend.“ waren meine Antworten. Dieser Ansatz funktionierte ganz gut – bis sich der Tatzelwurm auflöste und ich dank Gelände und leichtem Nebel 360 Grad rund um mich keine andere Laufenden mehr ausmachen konnte. Meine beschränkten Kartenlese-Fähigkeiten (angeeignet durch RS, UOS, OS und YouTube) funktionierten im Überlebensmodus erstaunlich gut. Zusammen mit den Angaben des GPS-Tracks auf der Uhr und mit Fine-Tuning per Offline-Karte auf dem iPhone kam ich alleine ganz gut voran und fand Posten um Posten.
Ebenfalls bewährte sich das Konzept mindestens stets nach einer Stunde Laufzeit etwas Kleines zu essen.
So lief ich problemlos – wohl etwas zu problemlos – leicht euphorisch zum Drop-Bag Point, wo man temporär seinen 5kg / 22 Liter Sack erhielt. Frisch und rasch „auf-bidonniert“ und ein wenig erstaunt, wie wenige andere LäuferInnen sich vor mir befinden (ungefähr 10-20), machte ich mich auf das letzte Drittel der Tagesetappe.
10 Kilometer vor dem Tagesziel marschierte ich neben einem einheimischen Typen den Berg hinauf. Er kannte die Strecke in- und auswendig. „Bis ins Ziel sind es noch etwa 3 Stunden“, meinte er. Ich dachte zuerst, es sei ein Scherz. War aber keiner. Lustig war es so oder so nicht mehr, denn wir bewegten uns mittlerweile auf allen vieren über den namensgebenden drachenrücken-förmigen Berg-Grat. „Scrambling“ nennen das die Trail-LäuferInnen. Würde ich angeben wollen, würde ich sagen, dass es auf beiden Seiten senkrecht hinunter ging und ich nur dank der Anleitung der vielen (angeseilten) Bergführer den Weg an die Schwanzspitze (oder den Schlund?) des Drachens fand.
Egal wie megakrass diese Grat-Längsüberquerung nun war oder nicht, Rats war am Abend trotz seiner jahrelangen Erfahrung (inkl. 201km langen erfolgreichen Irontrail-Teilnahmen) jedenfalls ziemlich bleich und äusserte Ausdrücke, die einem pensionierten Bürstenbinder die Schamröte ins Gesicht getrieben hätte.
Zum Glück wussten wir, dass der erste Tag der technisch anspruchsvollste sein würde. So konnten wir den trockenen Reis – oder waren es Linsen, Couscous oder Tofu? – etwas besser herunterwürgen. Die Organisatoren verzichteten beim Kochen auf Fleisch – leider auch auf Gewürze, bzw. Geschmack. Sowieso war die Zeltstadt eine Art Olympisches Dorf für Arme: ein paar Toitois, ein grosses Abwaschbecken für das Geschirr, ein Essens-Zelt und ein Sanitäts-Zelt – fertig.
Aber im Ernst: Ein grosses Lob an die vielen Helfer, die sich prächtig um uns kümmerten und täglich die komplette Infrastruktur auf- und abbauten. (Eigentlich fehlte vom Olympischen Dorf nur der McDonalds.)
Wer mich kennt, weiss wie „gerne“ ich zelte. Dass ich liebend gerne auf die tägliche warme Dusche verzichte, oder es mir völlig Wurst ist, wenn ich längere Zeit keine Privatsphäre habe. Ich muss aber gestehen: Ein eigentliches Highlight war tatsächlich das Zeltleben im komfortablen 8er Zelt. Wobei: Wir waren bereits in der ersten Nacht nicht mehr 8 Personen. Drei von acht schafften die Cut-Off Zeiten des ersten Tages leider nicht und fielen aus dem Rennen. Somit blieb uns verbleibenden fünf Schweizern sogar noch mehr Platz, was – neben des idealen Camping-Wetters – sichtlich zur Stimmung untereinander beitrug. Jeder kümmerte sich nicht nur um sich, sondern wo möglich auch darum, den anderen zu helfen – unterlegt von ständigen Witzeleien. Vor dem Event, hatte ich mir mögliche (fremde) Zeltgenossen viel verbissener vorgestellt. (Danke nochmals Jungs, falls Ihr dies liest!)
Tag 2 – Die Fehler
Wie eingangs erwähnt, durften alle frei auswählen, wann sie im Zeitfenster zwischen 6 und 9 Uhr starten wollten. Auf Grund der Laufzeit vom Vortag erhielt man eine Empfehlung. Meine war mit 08:00-08:30 angegeben. Als ich mich also gegen 07:00 aus meinem nigel-nagel-neuen Schlafsack herausschälte, waren meine 4 Schweizer Leidensgenossen längst unterwegs. Ich genoss die angenehme Ruhe unter den verbleibenden Elite-LäuferInnen nicht ganz ohne Stolz. Nachdem ich endlich genug gefrühstückt und dank Rats Bürstenbinder-Lektion vom Vortag beim Schlafsack-Einpacken das neu Erlernte sogleich selber “rhetorisch” anwenden konnte, machte ich mich auf den Weg.
Dann beging ich zwei kapitale Greenhorn-Fehler: Erstens startete zusammen mit mir Dan. Ihn hatte ich schon am ersten Tag häufig gekreuzt, wurde abgehängt, konnte ihn wieder aufholen, etc. Stets wechselten wir ein paar Worte. Nun startete er zufälligerweise mit mir. Mit einem gewinnenden lächeln im Gesicht (perfekte Zähne), einer VoKuHiLa-Frisur und einigen Tattoos am Körper entsprach er genau meinem Klischee-Bild eines professionellen Trail-Läufers. Innerhalb von Sekundenbruchteilen verflüchtigte sich mein über Monate gefasstes Mantra “mein eigenes Rennen zu laufen”.
“Shall we start together?” fragte Dan. “Sure!”, hörte ich mich zustimmen. Wohl in der Hoffnung, es wäre am Anfang des zweiten Tages ja relativ flach und ich müsste so auch weniger Karten lesen. Wir trabten los und irgendwie fühlte es sich recht locker an, trotz des mordsmässigen Muskelkaters in den Oberschenkeln durch die 4000 bergab Höhenmetern vom Vortag.
Nach einigen Kilometern wurde es immer strenger. Ich hätte längst abreisen lassen sollen. Da passierte mir der zweite kapitale Fehler: Bei einer geöffneten Bar gönnte ich mir KEIN Fanta (was erlaubt gewesen wäre), sondern – aus Angst den Anschluss an Dan zu verlieren – stressten wir daran vorbei.
Noch vor der Drop-Bag Station musste ich Dan dann (Wortspiel!) sowieso ziehen lassen. Mein Tank war fast leer. Die Steigungen, an denen ich nicht mehr rennen mochte, wurden immer flacher. Ziemlich leer beendete ich den Dienstag erstaunlicherweise fast ebenso gut platziert wie den Montag. (Beide Tage in den Top 15 von 401 Teilnehmenden.)
Im Ziel, i.e. im Zelt, angekommen darf man den logistischen Aufwand nicht unterschätzen:
- Wettkampf-Rucksack für den kommenden Tag neu packen
- Drop-Bag (22l/5kg) für den kommenden Tag neu packen
- GPS-Uhr aufladen, Tapes abreissen, neue Startnummer befestigen, Kontaktlinsen ausziehen, etc.
- Mätteli und Schlafsack für die Nacht auslegen
- “Duschen” und umziehen (das heisst ca. 5-10 Minuten zum nächsten Fluss hinken und in ca. 10 Grad kaltem Wasser kurz untertauchen)
- Essen (wichtig!) – inkl. Abwasch
Bei alledem musste man sich ordentlich konzentrieren, denn ein Fehler beim Packen des Rucksacks hätte nächstentags das Ende des Rennens bedeuten können – sei es durch Disqualifikation wegen vergessenem Pflichtmaterial oder “lebensnotwendige” Dinge in einem der verschiedenen Rucksäcke.
Alles lief wie am Schnürchen – ausser der letzte Punkt obiger To-Do Liste. Ich brachte keinen Bissen hinunter. Stattdessen: Appetitlosigkeit, Übelkeit und Schlaflosigkeit.
Tag 3 – Die Wand
Auch am nächsten Morgen: kaum besser, kaum Frühstück. Mit halb-leerem Tank startete ich wohlwissentlich nicht erst um 08:00, sondern bereits gegen 07:00. Noch vor dem mittäglichen Drop-Bag Halt überholte ich zwar die vor mir gestarteten schweizerischen Zelt-Kameraden, kurze Zeit später begann mein Benzin Reserve-Lämpchen zu leuchten und noch vor dem Drop-Bag Halt blieb ich praktisch stehen. Gemeinsam kamen wir als Schweizer Trio zum Mittags-Halt.
Ich befand mich bereits Meter-tief in der dicksten “Wand”, in die ich jemals rannte. Ich war komplett leer, war unfähig etwas zu essen und das schlimmste: noch immer fast ein Marathon vor mir. Es begannen sich erste Zweifel einzuschleichen, ob ich den Tag vor Zielschluss um 23:00 beenden könnte. Mit dem angefangenen Biberli in der Hand machte ich mich auf den Weg, liess die anderen Leidensgenossen ziehen und peilte spazierend den nächsten Kontroll-Posten an. Mein komplettes Nahrungsaufnahme- und Verdauungs-System blieb blockiert. Bei jedem Schritt musste ich mich konzentrieren, damit ich mich erstens nicht übergeben musste und zweitens überhaupt die Kraft aufbringen konnte, den Schritt auszuführen. Von vielen LäuferInnen, die ich vormittags noch überholte, wurde ich wieder rück-überholt – und aufgemuntert. Mein einziges Ziel bestand darin vor 23:00 über die Ziellinie zu kommen, um nicht disqualifiziert zu werden.
Die letzten 30km waren der härteste Sport-Moment in meinem Leben. Man könnte nun meinen – und diese romantisch naive Vorstellung hatte ich teilweise als ich mich für das Abenteuer anmeldete – dass man in einer solchen von Langsamkeit geprägten Situation unter höchsten Strapazen am körperlichen Limit womöglich die Antworten auf die wichtigsten Fragen des Lebens finden würde. Natürlich ist dem nicht so. Wer sich vor einem solchen Wettkampf nicht selber gefunden hat, wird es auch in einer Ausnahmesituation nicht tun. Im Gegenteil, man ist einzig und allein auf den Moment fokussiert und kanalisiert alle Gedanken darauf das akute Problem zu lösen.
Was mir schlussendlich gelang. Nach ziemlich genau 12 Stunden Laufzeit am dritten Tag kam ich im Ziel an. Noch immer war mir kotzübel, also ging ich als erstes duschen (das heisst in Abenddämmerung in den nahe gelegenen Fluss). Danach schenkte mir einer meiner Zelt-Kameraden eine Ovo-Schoggi. (Danke nochmals!) Das war der Wendepunkt. Ich schaffte es erstmals an diesem Tag, etwas (eine Reihe Schoggi) hinunter zu würgen – und bei mir zu halten – später kam noch ein halber Teller Englische Kohlenhydrate dazu.
Gerne hätte ich ein paar Worte mit meinen Angehörigen in der Schweiz gewechselt. Aber einmal mehr hatten wir im Zelt-Dorf überhaupt keinen Handy-Empfang. Eigentlich hatte man ausschliesslich am Start am Montag und im Endziel am Freitag jemals Empfang. Im Nachhinein war ich ziemlich froh darum: Frei von äusseren Einflüssen konnte man sich auf das aktuell Wesentliche konzentrieren. Praktisch ohne Rückmeldung meinerseits, das heisst ausschliesslich mit Informationen des Live-Trackers (via GPS-Signal), gelang es dem ckr Fanclub Schreiberling Fredi einmal mehr noch während des Rennens hervorragende und treffende Berichte zu verfassen. (Danke nochmals!)
[ckr Fanclub – Auf ins Abenteuer] [ckr Fanclub – The Dragon’s Back Race 2019] [ckr Fanclub – Jetzt sprechen die Drachenreiter]
Tag 4 – Die Auferstehung
Donnerstag. Zum ersten Mal seit des Startschusses verbrachte ich Zeit auf dem Toi Toi WC: 10 Minuten. Danach genoss ich eines der besten Frühstück-Brunches meines Lebens – und dies trotz kleinerem Angebot als es eine SBB Minibar bietet. Ich hatte plötzlich einen Mordshunger und hätte einen Drachen zum Frühstück verspeisen können. Meine Verdauungs-/Ernährungs-Trakt Probleme waren auf einen Schlag gelöst.
Gut gelaunt und genährt startete ich abermals früh in den Tag und lief bis zum Drop-Bag Point mit zwei meiner vier Zeltgenossen. Auf der zweiten Tageshälfte verabschiedete ich mich von ihnen und endete schliesslich für die letzten 15 bis 20 Kilometer bei einem britischen Hausarzt. Zum Glück nicht in seiner Praxis, sondern in seiner Gesellschaft als Mitläufer. Über zwei, drei Stunden beredeten wir die Leichtathletikszene, Olympische Spiele, Gott und die Welt, bis wir – fast ohne es zu merken – zusammen das Tagesziel erreichten.
Tag 5 – Der Flow
Nun schien ich den Rhythmus gefunden zu haben. Mit dem Ziel relativ nahe (ca. 65km) vor Augen, wusste ich insgeheim, dass ich es ohne unvorhergesehene Zwischenfälle regulär und rangiert ins Ziel schaffen würde. Päng! Schon lag ich nach ca. 10 Kilometer am Boden. Über einen 1cm hohen Kieselstein war ich gestürzt, der mich erinnerte, nicht fahrlässig zu werden und sich auf das Rennen zu konzentrieren. Ausser einem Loch in der unkaputtbaren Landkarte (zum Glück an einem Ort, wo ich schon durchgelaufen war) und ein paar Schrammen an Händen und Knien passierte mir zum Glück nichts. Im Tunnel laufend fand ich meine perfekte Pace, lief den ganzen Tag wirklich komplett mein eigenes Rennen, vertraute meinen aufgefrischten Kartenlese-Fähigkeiten und schaffte es sogar einmal – und darauf bin ich mächtig stolz – durch einen flachen Umweg den Höhenlinien folgend einen vor mir liegenden Läufer zurück zu überholen. So im Flow zu laufen fühlte sich gut an. Der letzte Tag hätte noch etwas weiter gehen können, aber schon kam der Zieleinlauf.
Wer schon mal einen Laufwettkampf bestritten hat, weiss, dass die wenigsten Zieleinläufe so spektakulär sind, wie jener in der New York Marathon-Werbung. Ein Zieleinlauf besteht in der Normalität maximal aus einem aufblasbaren Werbe-Bogen, zwei, drei Werbebanner und wenn es hoch kommt, ca. 20-50 Zuschauer, Helfer und sich bereits im Ziel befindende Mitlaufende. Bei Trail-Läufen verdünnen sich diese Zahlen noch, weil die wenigen LäuferInnen verteilt über eine Zeitspanne von mehreren Stunden über die Ziellinie tröpfeln. In diesem Sinne freut sich bei einem Trail-Lauf selten jemand über das Ziel selber, sondern man feiert vielmehr im Stillen für sich alleine den Sieg über die Strecke, die Berge und sich selber.
Der Schluss
Abgesehen vom britischen Essen war der gesamte Event von A bis Z wirklich perfekt durchorganisiert. Eine logistische Meisterleistung des Veranstalters. Ein Verbesserungspotenzial gäbe es jedoch: Die Schlussparty könnte wirklich eine Schlussparty sein. Leider mochte die abgewrackte Turnhalle, der nochmals gleiche Camp-Food und ein einziger, komplett überrannter Pizza-Foodtruck nicht ganz überzeugen. In diesem Sinne wäre Rats mit seinen legendären Altstätter Städtlilauf Parties ein toller Mentor gewesen.
Natürlich hatte dies null Einfluss auf unsere Stimmung, schliesslich konzentrierten wir uns auf die wesentlichste aller Regenerations-Massnahmen: Es gab frisch gebrautes Bier.
Wie weiter?
Einige (inkl. ich selber) fragten mich nach dem Abenteuer, ob ich dies oder ähnliches wiederholen würde. Nun. Zwei, drei Bierwetten sind zwar noch offen, aber lange nicht derart verrückte Ideen. Ausserdem konnte ich dem Mehrtages-Konzept nicht viel abgewinnen. So wette ich hoffentlich nie mehr um Mehrtages-Events, sondern höchstens um längere Einzel-Wettkämpfe als Amateurläufer. Faszinierend sind diese Läufe aus vielen Gründen alleweil. Überhaupt bin ich immer gerne alleine gelaufen und kann in Zukunft hoffentlich weiterhin den einen oder anderen längeren Lauf geniessen – das darf gerne auch im Training sein, ohne ausführliche Berichterstattung.
Ah ja: 35. wurde ich – von insgesamt 251 Finishern. Bei 401 Startenden.