Bild: Strava, Antton Miettinen

Vorbereitung

Mit 10 Wochen Trainingslagern (3 Blocks à 2, 4 und 4 Wochen mit je 2 Wochen „Pause“ dazwischen) habe ich mich im Engadin auf den 27. September 2015 vorbereitet. Die Vorbereitung lief sehr gut, denn ich war weder krank noch verletzt. In einzelnen Trainings habe ich gemerkt, dass mein Körper einen Schritt nach vorne gemacht hat.

Weil es im Engadin viel zu entdecken gibt und weil einige andere LäuferInnen (darunter Tadesse Abraham, Michael Ott, Adrian Lehmann, Marcel Berni und der TV Oerlikon) ebenfalls die Vorteile der Höhe nutzten, ging die Zeit wie im Fluge vorbei. Dennoch trainierte ich erstmals in Trainingslagern vorwiegend alleine – auch beispielsweise Intervall-Trainings auf der Bahn oder gar den 40 km langen Longrun. Ich sehe dies im Nachhinein nicht als Nachteil. Klar sind Gruppen manchmal wichtig, um sich über die eigenen Grenzen zu pushen. Das ist aber nicht immer nötig. Mindestens so wichtig ist es, in seinen eigenen Körper zu horchen und sein Training exakt danach zu richten. Die Signale seines Körpers richtig zu deuten, ist zentral für jeden Marathonläufer. Das ist jedoch unmöglich, wenn man in einer Gruppe läuft. In einer Gruppe hört man unfreiwillig auf den Körper des tonangebenden Läufers.

In einer Gruppe hört man unfreiwillig auf den Körper des tonangebenden Läufers.

Sekunden Rückstand beim Halbmarathon

Achterbahnfahrt

Mit viel Selbstvertrauen nahm ich die zweitletzte Woche vor dem BWM Berlin-Marathon in Angriff. Dann kam die Krise: Die Beine liefen nicht mehr wie gewünscht, ein Training wurde wegen Unlust spontan abgesagt, der Puls schnellte in die Höhe und die Laktatwerte beim entscheidenden Training in der Marathon-Pace wollte ich gar nicht erst wissen. „Höhenloch“ antwortete der Coach auf mein Jammern. Danach folgte ein Hoch. Beim letzten Training in Marathon-Pace (2x 3000m) fühlte ich mich plötzlich wieder hervorragend. Nach dem Hoch wieder ein Tief – dieses Mal bereits im Athleten-Hotel in Berlin. Das nächste Hoch kam (zum Glück) bei der Fahrt im Bus vom Hotel an den Start des BMW Berlin-Marathons. Ich wurde von ähnlichen Gefühlen wie vor dem Start der EM in Zürich 2014 übermannt. Was für eine Achterbahnfahrt!

Sekunden Rückstand bei 30 Kilometer

Startschuss

Dann endlich Startschuss. Schnell formierten sich die Gruppen. Vor mir jene mit 2:12:30 Zielpace – zu schnell für mich. Direkt dahinter lief „meine“ Gruppe den Halbmarathon (meist mit zwei Briten vorne) 37 Sekunden zu langsam. Ich übernahm einige Male die Führung, hatte jedoch nicht genug Selbstvertrauen, um mich von der Gruppe zu lösen. Ausserdem konnte ich hinter den Frontläufern Kraft sparen und im Energiesparmodus laufen. Bei Kilometer 30 schaute ich auf die Uhr und verglich die Zwischenzeit (1:36:03) mit meinem Fahrplan auf dem Arm (1:35:00). Der Fahrplan auf dem Arm war jedoch mit einem 3:10-Schnitt gerechnet, was mit einer Endzeit von 2:13:37 geendet hätte. Ich konnte also von meinem Rückstand noch ein paar Sekunden abziehen. Aber wie viele genau?

Sekunden Rückstand bei 40 Kilometer

Sekunden Vorsprung im Ziel

Diese Rechnerei ging mir gehörig auf den Geist. Ich musste positiv bleiben. Also nicht rechnen, sondern mich über das gute Laufgefühl freuen und die Uhr ignorieren. Bei Kilometer 35 und 40 habe ich reflexartig nochmals auf die Uhr geschaut, konnte aber 1 und 1 nicht mehr zusammenzählen. Mit vielen positiven Emotionen der letzten Monate und dem Gedanken an eine mögliche tolle PB (persönliche Bestleistung) unter 2:15:00 versuchte ich mich zu motivieren. In den Kurven (wo der Laufrhythmus gebrochen wird), habe ich jeweils kurz an Rio gedacht, um das Tempo wieder aufzunehmen. Erst unter dem Brandenburger Tor ging dann der Blick wieder auf die Uhr und von dort auf den vor mir laufenden Deutschen Julian Flügel. Ich hatte erst dann wirklich daran zu glauben begonnen, dass es mit der Olympia-Limite klappen könnte. Ich wusste, dass es von dort aus mit einer 2:12:5x Zwischenzeit noch reichen könnte. So war es dann auch! Freudentränen – einmal mehr.

Wer hätte im April in London gedacht, dass mir die etwas schmerzliche Erfahrung des schwachen Schlussspurts (Endzeit 2:17:00 – statt 2:16:59) nun helfen konnte unter 2:14:00 zu bleiben! Auf den letzten 2.195 Kilometer lief nur der Sieger Eliud Kipchoge schneller! Die zweite Hälfte war mein zweitschnellster Halbmarathon überhaupt (1:06:20) und nur 25 Sekunden langsamer als meine persönliche Bestzeit (1:05:55) auf jener Distanz.

Auf den letzten 2.195 Kilometer lief nur der Sieger Eliud Kipchoge schneller.

Party

Im Ziel feierten wir mit einer Schweizer- und einer Brasilien-Flagge. Nach und nach wurde unsere TV Oerlikon Party-Fraktion grösser und ausgelassener. Wir hatten auch allen Grund dazu:

  • 18. Christian Kreienbühl 2:13:57 PB, Vereinsrekord, Olympia-Limite
  • 111. Christoph Rüthemann 2:28:28 PB
  • 127. Kaspar Schüpbach 2:29:31 PB
  • 132. Rubén Oliver 2:29:35 (Coach!)
  • 190. Ueli Bieler 2:34:12 PB
  • 194. Lutz Körner 2:34:21
  • 262. Sandro Wegmann 2:37:55 2x PB (HM und M)
  • 393. Hervé Sourisseau 2:42:41 PB
  • 3008. Christian Knapp 3:10:50
  • 81. Daniela Frauchiger 2:58:38 7x PB (4x 10km, 2x HM, und 1x M)

Gefreut haben mich ebenso die vielen herzlichen Reaktionen anderer Schweizer vor Ort, aber auch jene unzähliger mir unbekannter LäuferInnen. Einige entpuppten sich als Strava-User, die meinem Training schon seit Monaten folgen.

km Gemessen Fahrplan Differenz
5 0:15:58 0:15:52 +6
10 0:31:57 0:31:45 +12
15 0:48:02 0:47:38 +24
20 1:04:05 1:03:30 +35
HM 1:07:37 1:07:00 +37
25 1:20:05 1:19:23 +42
30 1:36:03 1:35:16 +47
35 1:51:43 1:51:09 +34
40 2:07:17 2:07:01 +16
Ziel 2:13:57 2:14:00 -3

Bild: Strava, Antton Miettinen

Marathon nach dem Marathon

Danach gab es den Marathon nach dem Marathon. Diesen absolvieren zu dürfen ist ein riesiges Vergnügen – da kommt man nicht mal per Verlosung rein. Und trotz Schweiss und Tränen kann man sich bei diesem ohne Blick auf die Uhr, ohne Rechnerei und ohne Kilometerangaben einfach treiben lassen: Hotel Minibar. Nachtessen zu zwanzigst hoch über der Stadt. Afterrace Party. Curry Wurst. Ausschlafen. Brunchen. Shoppen. Wie ein Star am Flughafen.

Ausblick

Nun geniesse ich vier Wochen ohne Laufen. Und je nach Lust und Laune beginne ich in ca. zwei Wochen mit lockeren Rennrad und/oder Bike Ausfahrten. Wie es danach weiter geht? Keine Ahnung. Mein Planungshorizont endete an der Ziellinie in Berlin. Nächstes Jahr findet im Juli erstmals eine Halbmarathon-EM (inkl. Team-Wertung) statt. Dafür müsste ich noch eine Limite unterbieten. Ich bin ja auch noch nicht selektioniert für Rio: Es besteht die Möglichkeit, dass ich von anderen Schweizern aus dem Team „gedrängt“ werde – es werden maximal 3 Läufer selektioniert. Ausserdem muss ich gemäss Selektionskonzept meine Leistung im Frühjahr noch bestätigen (NICHT notwendiger Weise mit einem Marathon). All dies könnte Einfluss auf meine Planung im 2016 haben, aber dafür lasse ich mir noch etwas Zeit.

Bild: Norbert Wilhelmi

Bild: Strava, Antton Miettinen